Briefe aus der Vergangenheit – Mahnungen an die Zukunft

„Meine liebe Inge“ sind die ersten Worte der Briefe, die die Teilnehmerinnen und Teilenehmer der Gedenkveranstaltung am 09. November 2022 in Recklinghausen von den Schülerinnen und Schülern der Geresu vernehmen. Die Gedenkverstaltung zur Erinnerung an die Opfer der Reichspogromnacht 1938 in Recklinghausen wurde gemeinsam von der Stadt Recklinghausen, der jüdischen Gemeinde Recklinghausen, der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit und Schülerinnen und Schülern des Projektkurses „Wider das Vergessen“ organisiert und durchgeführt.
Inge ist in diesem Fall Inge Judith Jäckel, geboren am 26. November 1927 in Recklinghausen. Sie und ihre fünf Geschwister lebten mit ihren Eltern in der Friedhofstraße, in der sie auch ein Geschäft betrieben. Inge erinnert sich in einem der Dokumente: „Vom Jahr 1933 bis 1939 musste ich die jüdische Schule in Recklinghausen besuchen, da mir als Jüdin die Aufnahme in eine höhere und allgemeine Schule verweigert wurde.“ Für die Familie Jäckel war spätestens mit dem Pogrom von 1938 klar, dass sie in Recklinghausen keine Zukunft haben würde. Sie versuchten sich deshalb ins Ausland zu retten. Inge wurde gerettet – ihre Eltern schafften es, sie für einen Kindertransport nach Großbritannien anzumelden. Aus den Briefen, die die in Deutschland gebliebenen Familienangehörigen nach Großbritannien schrieben, erfahren die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Gedenkveranstaltung, wie die Eltern die damals 13 jährige Inge anflehten und regelrecht bedrängten sich mehr dafür einzusetzen, dass auch ihre Geschwister die Möglichkeit erhielten, nach Großbritannien auszureisen.
Die Eltern versuchten ihrer Tochter dennoch vorzuspielen, dass ihr Leben in Deutschland „normal“ weiterverliefe. Sie berichteten von guten Schulzeugnissen der Geschwister oder davon, dass die Schwester „Unser liebes Hannilein ein großes Mädchen geworden [sei] und schon alles sprechen [könne].“ Die meisten Briefe enden so: ich „grüße und küsse dich liebe Inge recht herzlich. Deine Mama“. Auch die restlichen Familienmitglieder ergänzten meist noch ein paar persönliche Worte, versehen mit Grüßen und Küssen.
Der letzte verlesene Brief stammt aus dem Jahr 1940. Er klingt beinahe wie ein Abschiedsbrief der Mutter an ihre Tochter, in dem sie ihr nachträglich zum Geburtstag gratulierte und ihr schrieb, dass „der liebe Gott Dich immer beschützen und Dir ein langes gesundes und gutes Leben schenken [möge]“. Auch mit diesem Brief schickte sie wiederum Grüße und Küsse des Vaters mit und verschwieg der Tochter so, dass dieser sich bereits seit einigen Monaten im Konzentrationslager Buchenwald befand.
Am Ende der Gedenkveranstaltung wird für die Zuhörerinnen und Zuhörer eindringlich deutlich, dass „Liebe Inge“ die letzten Worte waren, die Inge Jäckel von ihrer Familie erhalten blieben. Der Rest der Familie ist von den Nationalsozialisten ermordet worden. Inge blieben alleine die Erinnerungen ihrer Kindheit, die Stimmen ihrer Lieben hörte sie niemals wieder.
Die Schülerinnen und Schüler der Oberstufe der Geresu rekonstruierten unter der Leitung der Geschichtslehrer Vito Gliozzo und Fabian Fritsch in ihrem Projektkurs das Leben der Familie für das Opferbuch der Stadt Recklinghausen. Sie arbeiteten dabei unter anderen mit den Dokumenten des „International Center on Nazi Persecution“ und des Stadtarchivs Recklinghausen. Im Laufe ihrer Recherche stellten sie auch Kontakt zu dem einzigen Sohn von Inge Jäckel her, der in den USA lebt.